Günter Schabowski zum 40. Jahrestag des Mauerbaues

Die Berliner Mauer - Das Forum: Diskussion zum Thema "Die Berliner Mauer": Günter Schabowski zum 40. Jahrestag des Mauerbaues
Von Admin (Admin) am Dienstag, den 31. Juli, 2001 - 12:07:

Die Berliner Mauer
Ein Fazit aus Erfahrung / von Günter Schabowski

Zwischen Extremen besteht kein Zusammenhang, so scheint es. Sie klaffen weit auseinander. Zwischen ihnen spannt sich das ganze Spektrum eines Bezugssystems. Das Wort "extrem" bezeichnet zugleich ihre Gegensätzlichkeit. Und doch berühren sie sich, wie es das bekannte Sprichwort benennt. Auch die Berliner Mauer liefert dafür einen Beleg der oberflächlichen Betrachtung schien sie lange ein Symbol der Unabänderlich- und Unüberwindlichkeit nicht nur einer Stadt- und Landes-, sondern der Weltteileilung. Und, wenn auch alles andere als ein Symptom der Stärke, suggerierte Sie auf perverse Weise Stabilität, - uns den Mauerbauern, den Herrschenden mehr als den Bürgern diesseits und jenseits des bedrückenden Betonzaunes. In Wahrheit war sie von Beginn an das augenfällige Eingeständnis der Schwäche einer missratenen Prophetie. Im Beton steckte von Beginn an der Keim des Zerfalls. Wir Weltverbesserer wollten keinen Spielraum verschwenden für Wünsche, Träume, Widersprüchlichkeiten, Bedürfnisse, Verspieltheiten, Ideenvielfalt, Modelaunen, kurz, für das Recht und die kreative Chance des Menschen, Irrtümern anzuhängen und sie zu verwerfen. Ihm war die Rolle des Abzurichtenden, des Erziehungsobjektes zugedacht. Erziehung, ideologische Einrede, mußte auch kompensieren, daß die rachitische Staatswirtschaft nicht imstande war, den Versorgungsstatus zu sichern, den der "verfaulende Kapitalismus" selbst seinen ausgebeuteten Kreaturen garantierte. Anfang und Ende der Mauer bezeugen die Widersinnigkeit des mit ihr unternommenen Versuchs. Als sie 1961 in einer Nacht- und Nebelaktion hochgezogen wurde, sollte sie das System retten. Sie sollte die die Massenflucht stoppen, mit der sich die Menschen von ihren Präzeptoren verabschiedeten. Der Wandel des Systems blieb aus. Stattdessen verendeten Menschen unter Schüssen und Selbstschüssen an der Mauer. Jeder Tote zeugte erdrückend gegen die Unmenschlichkeit der sozialistischen Verheißung. Sie liebte ja das Wort "Masse". Darin verrät sich das unheilvoll Paradoxe einer Gesellschaftsidee, die vorgibt, das irdische Reich der Seligen zu erstreben. In der Realität veranschlagt sie die Rolle des Individuums niedriger als das - gleich unter welchen Opfern erstrebte - Gemeinwohl eines abstrakten Menschheitsbegriffes. Arthur Koestler schrieb, daß die Menschheit zu entmenschlichen drohe, wenn der Einzelne auf den Quotienten von 5 Milliarden durch 5 Milliarden reduziert wird .

28 Jahre später rissen wir die Mauer ein , - wiederum um das System zu retten. Der Druck der Menschen schrieb uns das Handeln vor. Zwei entgegensetze Versuche, beide schlugen fehl und bezeugen so das notwendige Ende der Ideologiegesellschaft.

Mein Fazit des 13. August 1961 besagt:

· Die Mauer wurde zur Metapher für den Konflikt des Jahrhunderts. Ein unmögliches Stück politischer Architektur, ein negatives Faszinosum, das auf den ersten Blick gegen den Sozialismusversuch namens DDR zeugte.

· Die Mauer markierte indes den vorweggenommenen Bankrott des kommunistischen Experiments überhaupt. Sie machte die innergesellschaftlichen Konflikte augenscheinlich, die in der Sowjetunion wie in den anderen realsozialistischen Ländern permanent schwelten und aufflackerten, aber sich nicht so dauerhaft und greifbar offenbaren konnten, weil dort der vergleichsweise intakte nationale Rahmen eine gewisse Geschlossenheit verbürgte.

· Die Errichtung der Mauer hatte signalisiert, daß die Sowjetführung entschlossen war, ihr nach dem Zweiten Weltkrieg errungenes westliches Glacis mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Nicht Liebe zu Ulbricht, sondern die imperiale Befürchtung, einen mit hohem Blutzoll erkämpften strategischen Territorialgewinn einzubüßen, und die Sorge, die anderen Staaten des Ostblocks könnten sich destabilisieren, stand hinter dem Moskauer Ukas, der Fluchtbewegung aus Ostdeutschland eine Barriere entgegen- zusetzen. Man sollte ferner nicht übersehen, daß der sächsische Uranbergbau der DDR einen wesentlichen Teil der sowjetischen Nuklearrüstung bediente. Natürlich lag die Zementierung des Eisernen Vorhangs auch im Interesse der deutschen Satrapen. Aber historische Korrektheit verlangt den Hinweis auf Motiv und Kompetenz des sowjetischen Hintergrunds.

· Am 9. August 1961 hatte der Fluchtpegel den Tageshöchststand seit Bestehen der DDR erreicht (1322 F7üchtlinge), nachdem Jahr für Jahr zwischen 140 000 und 331000 Menschen dem Arbeiter- und Bauern-Staat den Rücken gekehrt hatten. Korea und Vietnam hatten inzwischen Modelle geliefert für eine Verriegelung des jeweiligen kommunistischen Teilstaates. Der "souveräne Akt" der DDR liest sich in Gromykos "Erinnerun- gen" so: "Die Regierungen der Länder des Warschauer Paktes appellierten an Regierung und Arbeiter Ostdeutschlands, an der Grenze zu West-Berlin verläßliche Vorkehrungen zu treffen, die den Weg zu subversiven Tätigkeiten gegen die Staaten der sozialistischen Gemeinschaft blockierten, und das gesamte Gebiet West-Berlins einschließlich der Grenze nach Ost-Berlin mit zu- verlässiger Sicherheit und effektiven Kontrollen zu umgeben. Infolgedessen verabschiedete der ostdeutsche Ministerrat einen Beschluß über Maßnahmen zur Verteidigung des Staates und insbesondere seiner Hauptstadt Berlin: ` Dem "Appell" wurde mit fugenloser rotpreußischer Gründlichkeit Folge geleistet.

· Die Mauer machte schließlich auch die Hilf- und Ratlosigkeit der westlichen Welt offenbar. Sie mußte den Bau geschehen las- sen. Die Räson des Status quo und das Ausmaß der nuklearen Vernichtungspotentiale auf beiden Seiten verboten, wie gesagt , einen anderen als den rhetorischen Einspruch.

Das alles ist, gottlob, Vergangenheit, die zur Geschichte geronnen ist.

Der Abriß der Mauer hatte die absurde Konsequenz, daß sich die SED unter den Bedingungen allgemeiner politischer Freiheit, die die verhaßte Einheit auch ihren Parteigängern bescherte, unter anderem Namen wieder formieren konnte. Ich will dennoch glauben, daß jene, die dort weiter am Klassenfeindbild basteln wollen, wo sie '89 das Fiasko ereilte, am Ende auf der Mauer sitzen bleiben, die sie in bereitwilligen Köpfen zu errichten oder zu restaurieren versuchen.

Was erreicht wurde, ist unumkehrbar. Was in den Staub gesunken ist, ist unwiederbringlich. Wer das Unabänderliche begreift, wird den Blick nach Vorn richten können. Solange mir noch Zeit bleibt, werde ich etwas tun für diese Einsicht.


Günter Schabowski
Berlin, den 30.07.2001